Was soll das?
Ich wachte wie in Schweiß gebadet auf, schreckte hoch, mein Puls war gefühlt auf 580, das Atmen fiel mir schwer. Als würde eine tonnenschwere Last auf meinem Brustkorb liegen. Ich habe versucht, mich zu sammeln, den vergangenen Abend, die Nacht in Erinnerung zu rufen.
Jörn war gestern Abend bei mir. Es war ein netter Abend – so nett, dass Jörn über Nacht blieb. Ok, nicht die ganze Nacht, denn er war nicht mehr da, wie ich mit einem Hauch von Erleichterung feststellte. In meinem Bett saß nur ich, mein dicker Kopf, der sich anfühlte, als würde er gerade Kirmes feiern, und irgendetwas, das mir die Luft zum Atmen abschnürte.
Ich stehe auf, trottete in die Küche, um mir einen starken Kaffee zu kochen. In meinem Kopf tobte die Kirmes weiter, gefühlt fuhr ich Breakdancer. Ich konnte keine klaren Gedanken mehr fassen. Plötzlich tauchten wie auf einer Kinoleinwand Bilder auf. Bilder von mir als etwa Vierjährige, die zu unseren Nachbarn hinüberstapfte. Ich sehe die Gänsewiese, das Stroh, den Gänsestall, den 18-jährigen Sohn der Nachbarn. Zwischendrin flackerten Bilder von der letzten Nacht mit Jörn auf. Ich konnte es nicht einordnen. Schüttelte immer wieder meinen Kopf, in der Hoffnung, diesen Film so ausschalten zu können. Leider ohne Erfolg. Ganz im Gegenteil: Auf einmal stiegen mir auch noch die Gerüche zu den Bildern in die Nase. Das war einfach nur noch gruselig und total schräg.
Ich tigerte durch meine Wohnung wie ein eingesperrtes Tier im Zoo. Dann fiel mir ein, dass ich abends wieder mit Jörn verabredet war. Bei diesem Gedanken wurde mir speiübel. „Bärbel Gröbel! Was stimmt denn nicht mit dir? Du baggerst wochenlang an diesen Typen rum und jetzt wird dir plötzlich schlecht, wenn du nur an ihn denkst? Was soll das?“
Auch im Laufe des Vormittags stellte sich keine Ruhe in meinem Kopf ein. So beschloss ich, die Verabredung abzusagen und dieses Wochenende allein mit meinen wirren und schrägen Gedanken zu verbringen. Vielleicht wird die Kirmes abgebaut und in meinen Kopf kann wieder Ruhe einkehren.
Der Montag kam, das Volksfest war immer noch da. Ich war völlig fertig. Von gutem Schlaf konnte an diesem Wochenende keine Rede sein. Ich brach auch ständig in Tränen aus, ohne wirklich zu wissen, warum. Den Bildern kam ich ebenfalls nicht auf die Spur. Irgendwie wurde alles schlimmer statt besser. Ich war übers Wochenende ein verheultes Nervenbündel geworden und bekam Angst, weil ich nicht wusste, was mit mir los war. Also meldete ich mich auf der Arbeit krank und rief meinen besten Freund Armin an. Zum Glück hatte er heute frei, war recht schnell bei mir, hielt mich erst einmal einfach nur fest – und ich ließ alles los und heulte eine gefühlte Ewigkeit.
Als ich wieder sprechen konnte, erzählte ich Armin von den Ereignissen des letzten Wochenendes. Ich wusste gar nicht, wo ich anfangen sollte, meine Gedanken waren schneller als meine Worte. Aber es tat sehr gut, Armin alles anzuvertrauen. Letztendlich war uns beiden klar, dass mir mein Unterbewusstsein etwas in Erinnerung bringen wollte – etwas, das ich wohl seit meiner Kindheit bis zu diesem Wochenende erfolgreich verdrängt hatte.
Armin bat mich, mir Hilfe zu suchen. Das war einfacher gesagt als getan. Meine erste Anlaufstelle war Dr. med. Benzel, mein Hausarzt. Er schaute mich etwas ratlos an, nachdem ich versucht hatte, ihm meinen Gemütszustand zu beschreiben. Augenscheinlich verwirrte ich ihn – zumindest sah er so aus. „Leiden Sie an Depressionen?“, fragte er dann.
Scheiße, Mann, woher sollte ich das wissen? Ich dachte, du könntest mir sagen, was mit mir los ist.
„Ähh … keine Ahnung, nicht dass ich wüsste“, war meine Antwort.
Dann gab er mir eine Liste, auf der sämtliche Namen mit Kontaktdaten aufgeführt waren.
„Also, das Einzige, was ich Ihnen raten kann: Suchen Sie einen Psychologen auf.“ Dabei tippte er mit seinem Zeigefinger auf den Zettel. „Die sind alle in unserem Kreis ansässig und daher gut zu erreichen.“
„Oh, das ist ja etwas“, entgegnete ich, stand auf, reichte ihm die Hand zum Abschied. Ich wollte nur noch raus aus dieser Arztpraxis. „Leiden Sie an Depressionen?“ – Woher soll ich das wissen? Was ist das überhaupt?
„Alles Gute, Frau Gröbel, und viel Glück bei der Therapeutensuche“, rief Herr Dr. Benzel mir noch hinterher.
„Na, vielen Dank auch!“, dachte ich. Wenigstens hatte ich jetzt Kontaktdaten von Leuten, die mir helfen könnten.
Schnell begriff ich, warum mein Hausarzt mir Glück bei der Therapeutensuche gewünscht hatte – bzw. beim Abarbeiten dieser Telefonliste. Entweder hörte ich nur eine Ansage, ich solle meine Nummer hinterlassen und würde zurückgerufen, oder, wenn ich tatsächlich jemanden an die Strippe bekam, wurde mir gesagt, ich würde auf die Warteliste gesetzt – mit der Bitte, alle sechs Wochen anzurufen, um zu bestätigen, dass ich immer noch ein Gespräch mit der/dem Psycholog*in wollte.
Puh … warum ist das so kompliziert? So lange wollte ich nicht warten. Ich musste mit jemandem reden. So schnell wie möglich. Nicht erst in vielleicht sechs bis zwölf Wochen.
Bei meiner Recherche im Internet stieß ich auf die Anzeige der Frauenberatungsstelle Impulse im Nachbarort. „Das klingt doch gut“, sagte ich zu mir selbst, griff zum Telefonhörer und vereinbarte einen Gesprächstermin für die folgende Woche. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich den Hörer auflegte.
Nun, das sollte genügen fürs Erste. Fortsetzung folgt bald.
Wenn Du mir eine Nachricht hinterlassen möchtest, freue ich mich.
Lieben Dank für deinen Besuch meiner Seite.
Der erste Schritt
Nun saß ich da, im Wartebereich bei dieser Frauenberatungsstelle. Super nervös und angespannt, aber auch neugierig darauf, wie „so ein Gespräch“ von statten geht. Total schräg alles. Die Dame, die mir die Tür öffnete, hieß mich herzlich willkommen und tat so, als wäre es das normalste auf der Welt, eine Frauenberatungsstelle aufzusuchen. Das tat gut, gab mir etwas Sicherheit. Sie führte mich in ein Wartezimmer, das irgendwie gemütlich war. Auch kein klassisches Wartezimmer wie man es aus Arztpraxen kennt. Es wirkte einladend, schnell schon gemütlich. Meine Augen füllten sich wieder mit Tränen.
Ein ganz tiefer Seufzer kam aus mir heraus. In diesem Moment trat eine Frau zu mir in das Wartezimmer, stellte sich als Sozialpädagogin Frau Paul vor und bat mich ihr zu folgen. Ihre Stimme war freundlich, wirkte beruhigend. Ich trottete hinter ihr her und setzte mich auf einen bequemen Stuhl, den Frau Paul mir zuwies.
Ich wusste zunächst nicht, was ich sagen sollte, wo ich anfangen sollte. „Wie geht es Ihnen?“ Fragte mich Frau Paul mit einfühlsamer Stimme. Wenn ich das wüsste, dachte ich und brach in Tränen aus. Ich kam mir plötzlich total albern vor. Habe ich überhaupt das Recht hier zu sitzen und die Zeit von der Sozialpädagogin in Anspruch zu nehmen? Es gibt Frauen, die wirkliche Probleme haben. Und sich nicht von irgendwelchen Hirngespinsten verrückt machen lassen.
„Ich weiß gar nicht, ob ich hier richtig bin.“ stammelte ich unter Tränen. „Frau Gröbel, es gibt bei uns weder richtig noch falsch. Sie sind hier, weil Sie etwas dazu bewegt hat einen Termin zu vereinbaren. Und das ist gut so.“ Sie reichte mir die Taschentuchbox. Ich zog dankend ein Taschentuch heraus, tupfte meine Tränen aus dem Gesicht und schnäuzte laut hinein.
„Mögen Sie mir etwas von sich erzählen?“ Fragte Sie mit ruhiger Stimme. Dann fing ich langsam an zu reden. Ich erzählte ihr von dem Film den ich gefahren bin. Beschrieb ihr die Bilder, die immer wieder vor meinem inneren Auge auftauchen und wie sehr sie mich verwirrten und ich immer mehr das Gefühl bekam wahnsinnig zu werden. Auch erzählte ich ihr von meiner Idee, dass mein Unterbewusstsein Ereignisse aus meiner Kindheit raus gekramt hat, da sie sich nicht länger verdrängen ließen.
Frau Paul bestätigte mir, dass Kinder sehr gute Verdrängungskünstler sind. Es sei eine von der Natur gegebene Überlebensstrategie traumatisierter Kinder. Sie hält es für durchaus möglich, dass es bei meiner Geschichte auch zutrifft.
Das hieße: Diese Bilder, die ich immer wieder sehe, sind Erinnerungen an eine Situation aus meiner Kindheit. Das würde auch erklären, warum ich den Geruch von Stroh aus dem Stall und den der Gänse so deutlich wahrnehme.
Langsam schließt sich der Kreis. Ich war wie gelähmt, saß da und starrte vor mir hin. Mein Magen zog sich zusammen. Ich spürte wieder diesen Druck auf meiner Brust. Mein Atem wurde kurz und schnell, die Kehle zugeschnürt. Langsam wurde mir klar, dass damals in diesem Stall etwas passiert ist.
Das alles ist kein böser Traum. Es ist ein zur Realität gewordener Albtraum.
Ich muss hier weg. Raus. An die frische Luft.
Frau Paul sah mich besorgt an. Es fällt ihr offensichtlich schwer, mich so gehen zu lassen. Obwohl meine Zeit längst abgelaufen war, gab Sie mir noch eine Übung mit auf dem Weg, wie man Gedanken ausbruchsicher in einen Tresor einschließen kann. Diese Übung sollte ich immer dann einsetzen, wenn meine Gedanken über diesen Traum drohen abzudriften. Zur Sicherheit schrieb sie mir noch eine Notfall-Telefonnummer, die ich bei Bedarf anrufen könnte. Wir machen einen Termin für die nächste Woche aus und verabschiedeten uns.
Ich lief drei zusätzliche Runden durch den Stadtpark, bevor ich zu meinem Auto ging. Versuchte meine Gedanken zu sortieren. Das gelang mir aber nicht. Verwirrt und aufgewühlt fuhr ich nach Hause. Dort angekommen, rief ich sofort Armin an. Er war der einzige, dem ich blind vertraute bin. Armin stand dann am späten Nachmittag mit einem bodenständigen Menü aus einem Sixpack Bier und einer großen Pizza von unserem Lieblingsitaliener vor meiner Tür. Armin gibt mir ein Gefühl von Sicherheit, wenn er in meiner Nähe ist. Wir verbrachten einen schönen Abend miteinander. Mein Psychoquatsch hatte heute Abend Pause und wurde in den Tresor eingeschlossen.
Vielen Dank für deinen Besuch.
Fortsetzung folgt bald.
Armin
Armin, mein bester Freund, Vertrauter, meine erste große Liebe, Vater unserer wunderbaren Kinder und mein von mir getrenntlebender Ehemann.
Nach über 18 gemeinsamen Jahren wussten wir keinen Ausweg mehr. Irgendwann, irgendwo falsch abgebogen. Zu viele Steine, große wie kleine, lagen auf unserem Weg.
Der größte Stein, nein, einen Brocken warfen uns meine Eltern schon ganz zu Anfang unserer jungen Liebe vor den Füßen.
Die ersten Monate warenst Du ganz ok für meinen Erzeuger. Hast du in unserem beschaulichen Gartenbaubetrieb ausgeholfen, bist du mit Mama zum Markt gefahren, wenn Not am Mann war. Das hast Du sehr gerne geholfen und Dich gefreut von meinen Eltern einbezogen zu werden. Alles war gut, dachten wir.
Bis zu dem Tag als Frau van Trockenpruum, Wochenmarkt-Stammkundin meiner Mutter, mit gerümpfter Nase die Frage stellte: „Frau Pfuhl, ist Ihnen eigentlich die Herkunft des Freundes Ihrer Tochter bewusst? Ich denke, es ist an der Zeit, Sie über diesen Mann aufzuklären.“
Meine Mutter, immer darauf bedacht „was die Leute denken werden“ bzw. Alles daran setzt, dass die Leute nie etwas Schlechtes denken könnten, spitzte natürlich sehr aufmerksam ihre Ohren. Eine Litanei von: „Der Vater hat den falschen Beruf, der Jung ist ein Taugenichts, die meiste Zeit arbeitslos, vom Altersunterschied (9 Jahre) ganz zu schweigen und ein Kind hat er auch schon!“ Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie meiner Mutter die Gesichtszüge entglitten. „Boden tu dich auf. Wie stehe ich denn jetzt da vor Frau van Trockenprumm.“
Frühen Nachmittag, ich war kaum zur Tür hierin, wurde ich schon von meiner Mutter in unserer Küche gefallen. Wort Schwaden präselten auf mich ein. Ob ich das alles von diesem Kerl wüsste. Und das Kind, der hat ja schon ein Kind!! Bärbel, weißt Du überhaupt mit welchem Kerl Du dich da eingelassen hast?“ Mamas Stimme wurde immer schriller. „Du brichst sofort den Kontakt zu diesem, diesem Armin ab!“ Fuchtelte sie mit ihrem recht ausgestreckten Finger vor meinem Gesicht herum.
„Ja, ich weiß alles über Armin. Diese Frau erzählt Lügen. Er ist nicht arbeitslos, er besucht die Technikerschule. Das wusstet Du auch vorher. Du glaubst dieser frigiden Schnepfe doch wohl nicht?
Meine Mutter brachte nur ein Räuspern heraus. Ihr stabiler Blick fixierte mich. Kälte machte sich breit zwischen uns. Das war genug Antwort. Ich brauche keine gesprochenen Worte mehr von ihr. Ich kenne diesen Blick. Sie fällt ihr eigenes Fleisch und Blut in den Rücken. Glaubt einer dahergelaufenen alten Frau, die einmal in der Woche einen Kopfsalat und ein paar Tomaten bei Mama kauft, eher als ihre Tochter.
Nein, ich breche den Kontakt zu Armin nicht ab. Ich liebe ihn, wir lieben uns und wir wollen zusammenbleiben. Hörte ich mich mit zittriger aber bestimmter Stimme sagen.
„Pah, Liebe, Liebe, was weißt Du denn schon davon. Der will doch eh nur das Eine von dir.“
Warum nur dieser Kerl, Bärbel? Warum bist Du denn nicht bei Olaf geblieben. Das war ein so netter Junge aus gutem Hause.“ Theatralisches Geheule folgte.
Ich hörte dieses Gezeter nur noch aus weiter Ferne, klinkte mich aus. In meinem Kopf drehte sich alles, mir wurde übel. Was geschah hier? Ich muss Armin anrufen. Ein bisschen schuldig fühlte ich mich schon, da ich die Tatsache, dass Armin schon Vater einer 4-jährigen Tochter war, meinen Eltern noch nicht erzählt hatte. Wir hatten richtig Schiss vor der Reaktion meiner Eltern. Wollten Sie den richtigen Zeitpunkt abwarten. Aber es wäre wohl immer der falsche Zeitpunkt gewesen, wie ich nun schmerzhaft spüren musste.
Die krächzende Stimme meiner Mutter kam wieder näher. Bitte? Was hast Du gesagt? Ich traue meinen Ohren nicht. Das Schnellste, was ich da hörte.
„Wir oder Er. Solange Du deine Füße unter unserem Tisch hältst, triffst Du dich nicht mehr mit diesem Taugenichts. Also, die Entscheidung liegt bei dir. WIR oder ER!“
Bevor alle Dämme brachen, verließ ich wortlos die Küche um in mein Zimmer zu gehen. Mein Herz raste der Kopf pochte. Der Versuch, dies zu verwirklichen, geschah zuvor in unserer Küche. Wie ferngesteuert ging ich zum Telefon, rief Armin an, um ihn zu beißen, mich so schnell wie möglich abzuholen. Wir machen eine Zeit aus wann er auf mich an der Straße zu unserer kurzen Hofauffahrt warte. Er beeile sich raunte Armin mir beruhigend durch die Hörermuschel in meinem Ohr.
Wie in Trance packte ich meine Klamotten. Einziger Gedanke, raus hier. Nichts wie weg aus dieser vergifteten Atmosphäre. Jeder Ort ist besser als hier in der Eiseskälte zu erfrieren.
An dieser Stelle mache ich Pause. Bin wieder mittendrin in meiner Geschichte. So lange her, doch immer noch kraftvoll. Ein bisschen bleibt immer, höre ich meinen damaligen Psychiater Dr. Krakau sagen, ein bisschen bleibt immer. Wie wahr.
Fortsetzung folgt.
Ganz lieben Dank für deinen Besuch.
Hinterlasse mir gerne eine Nachricht.
Frau Paul und dann?
Bei Frau Paul fühlte ich mich sehr gut aufgehoben. Ich vertraute ihr und dem geschützten Raum bei Impuls. Wir sprechen nicht nur über den Missbrauch, den ich als Kind und in meiner Jugend erlebt habe. Wir sprachen auch über das, was gerade in meinem Kopf vorging. Da war ganz schön viel drin. Hundertmillionenfünfzigtausend Gedanken flogen durcheinander. Natürlich nicht sortiert. Neeiiiin.
Es war wie das Gewusel einer Ameisenkolonie, die eifrige ihrem Tagwerk nachgeht. Oder wie der Bandsalat einer guten alten 90er TDK-Gold-Kassette. Manche dieser Gedanken waren ganz schön aufmüpfig und laut. Wollten mit aller Gewalt meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Die aufmüpfigen Lauten waren die Gangs of New York in meinem Kopf. Böse, mies, furchteinflößend. Sie ließen kaum Platz für Gutes.
In den Gesprächen mit Frau Paul fingen wir an, den Bandsalat mit einem Bleistift ganz langsam und vorsichtig wieder aufzuwickeln, um die Gangs im Zaum zu halten. Minischritte. Aber wir schufen damit eine Grundlage für die therapeutische Arbeit, die ich in Zukunft dringend brauchen würde.
Leider kamen wir dann eines Tages tatsächlich an den Punkt, an dem Frau Paul als Sozialpädagogin nicht mehr mit mir arbeiten konnte bzw. durfte.
„Frau Gröbel, wir hatten schon zu Beginn darüber gesprochen, dass ich Sie nur ein kurzes Stück Ihres Weges begleiten kann“, sagte sie. Bedauern lag in ihren Augen. „Ich darf zwar keine Diagnose stellen, aber nach allem, was Sie mir erzählt haben, komme ich zu der Vermutung, dass Sie an Depressionen leiden. Daher halte ich es für äußerst wichtig, dass Sie eine Gesprächstherapie bei einem Psychologen bekommen. So schnell wie möglich.“
„Ja, aber genau da liegt das Problem, Frau Paul“, entgegnete ich entmutigt. „So schnell wie möglich. Pah.“ Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich erinnerte mich an die diversen Telefonate mit Psychologen genau gesagt mit deren Anrufbeantwortern.
„Unsere Wartezeit beträgt 1–2 Jahre. Bitte hinterlassen Sie nach dem Signalton Ihren Namen und Ihre Telefonnummer. Rufen Sie bitte alle 6 Wochen erneut an, um Ihr Interesse zu bestätigen. Sobald ein Platz frei wird, melden wir uns.“
Zermürbend. Ermüdend. Als wäre ich nicht eh schon müde genug.
Allein die Anrufe waren eine Herausforderung. Mehrere Anläufe, bis ich überhaupt zum Hörer griff. Dann die Telefonnummer wählen. Nicht gleich wieder auflegen. Und das Ganze sechsmal (sechs Therapeuten auf meiner Liste). Alle sechs Wochen. Absoluter Hardcore. Ich wusste nicht, ob ich die Kraft hatte, da diszipliniert dranzubleiben.
Frau Paul nickte verständnisvoll. „Ich weiß, Frau Gröbel. Bitte verzweifeln Sie nicht daran. Zweifeln Sie nicht an sich selbst. Sie bekommen einen Therapieplatz, da bin ich mir sicher.“ Ich saß ihr gegenüber und spürte, wie ich mich in mein Schneckenhaus zurückziehen wollte. Mehr als ein Kopfnicken brachte mich nicht heraus.
Wir haben uns voneinander verabschiedet. Sie drückte mir noch einen Zettel in die Hand. 2 Telefonnummern von karitativen Einrichtungen, die ebenfalls Beratung anboten standen darauf. „Vielleicht können Sie sich damit über Wasser halten, bis Sie einen Therapieplatz gefunden haben.“ „Vielen Dank“, hauchte ich und verließ mit feuchten Augen die Beratungsstelle.
Zu Hause angekommen überkam mich ein Gefühl der Überforderung und des allein gelassen Werdens. Niemand mehr da, der mich versteht. Nur ein Zettel mit 2 Telefonnummern auf dem Küchentisch. Mein Brustkorb zog sich zusammen, Atmen wurde schwer. Ich hörte mich weinen, schluchzen. Hoffnungslosigkeit machte sich breit.
In diesem Moment wünschte ich mir einfach nur Stille. Innen wie außen. Ich war müde, fühlte mich leer und ausgelaugt. „Kopf hoch, Bärbel. Aufgeben ist keine Option . Du hast zwei wunderbare Kinder. Wenn du es gerade nicht schaffst, für dich stark zu sein, dann tu es für die zwei Menschen, die du über alles liebst. Für deine kleine Familie.“
„Ok“, sagte ich zu mir selbst, „Du hast nicht nur einen Zettel. Du hast diesen Zettel von Frau Paul, mit Kontaktdaten an die ich mich vertrauensvoll wenden kann. Es sind zwar nur 2 aber immerhin.“
In den nächsten Monaten habe ich versucht, irgendwie klarzukommen. Es war ein Spagat zwischen meinem „normalen“ Leben und dem Leben, das sich in meinem Kopf abspielte. Ich nannte es mittlerweile mein zweites Ich oder die dunkle Seite in mir . Die Gangs of New York eben. Sie tauchten immer öfter auf, um mir einzureden, wie schlecht und ungerecht die Welt da draußen doch sei.
„Psst, niemand mag dich wirklich. Sie schauen alle nur mitleidig auf dich herab, weil du ein Niemand bist, der nichts kann, nichts auf die Reihe bekommt. Es ist genauso, wie dein alter Herr es dir immer wieder vorgeworfen hat, sieh es doch endlich ein.“
flüsterten sie mit spitzen Zungen. Wortwörtlich kann ich diese Suggestionen nicht mehr wiedergeben, aber inhaltlich gehen sie immer in die gleiche Richtung. Sie machte auch vor den Menschen in meinem nahen Umfeld keinen Halt. Jede Situation wurde „durchgekaut“. Immer mit dem Tenor: Ich bin nichts wert. Ich bin nicht genug.
Diese gemeinen Banditen besuchten mich vor allem nachts. Sie ließen mich erst ein wenig schlafen. Doch gegen zwei Uhr morgens ging ihre Party richtig los. Sie hatten einen Mords Spaß daran, mich wachzuhalten, bis ich aufstehen musste.
Mit der Zeit glaubte ich ihren Worten. Ich begann, mich immer mehr abzuschotten. Sagte Verabredungen kurzfristig ab.
„Mich vermisst doch eh keiner, wenn ich dort nicht hingehe.“
„Meine Freundin ist sicher froh, wenn sie sich meinen Gejammer nicht anhören muss.“
Mein Nervenkostüm wurde immer dünner. Meine Zündschnur immer kürzer. Ich flog für Mückenpipi an die Decke. Teilte aus. Verletzend, ungerecht, laut. Ich fuhr einen ganz miesen Trip, von dem ich erst runterkam, wenn Türen knallten oder ich durch irgendetwas plötzlich erschrak. Erst dann sah ich, was ich angerichtet hatte.
Von Mal zu Mal verletzte ich immer ein Stückchen mehr Seele. Die meines Gegenübers. Und meine eigene.
Danach das schlechte Gewissen. Unermesslich groß. Nicht in Worten zu fassen. Unentschuldbar.
Werde ich langsam wahnsinnig?
Das Karussell zwischen diesen beiden Welten drehte sich immer schneller. Das Gefühl, den Verstand zu verlieren, wurde stärker. Die Gespräche, die ich ab und zu bei der Caritas oder einer kirchlichen Einrichtung führte, halfen nur bedingt. Es ist gut, mit jemandem außerhalb meines Umfeldes zu reden, aber wirklich verstanden fühlte ich mich dort nicht. Eine Gesprächstherapie war weiterhin nicht in Sicht.
Meine Sehnsucht nach Stille und Ruhe wurde größer.
Am 8. Dezember 2007 explodierte schließlich das, was sich in den vergangenen eineinhalb Jahren zusammengebraut hatte.
Armin und ich stritten wieder einmal. Dieses Mal am Telefon. Ich schaukelte mich so hoch, bis ich den Hörer wütend gegen meine Wohnzimmerwand schleuderte.
Ich erschrak. Plötzlich Stille. Für einen Moment.
Was dann geschah, war der Beginn einer endlosen Achterbahnfahrt mit allem Zipp und Zapp.
Ich verlor die Kontrolle über meine Gedanken, über meine Worte, über das, was ich tat. Ich beleidigte, schlug um mich, schrie irgendwelches Zeug herum. Ich war nicht zu beruhigen. Ganz im Gegenteil. Je mehr man versuchte, mich zu besänftigen, desto lauter und verletzter wurde ich.
Irgendwann stand meine Schwägerin, die Frau meines Bruders, vor mir schaute mich an und legte sanft eine Hand auf einen meiner Oberarme. In diesem Moment begann die Achterbahn langsam an Tempo zu verlieren. So lange, bis sie schließlich zum Stillstand kam.
Ich stieg grummelnd aus, sah Andrea an.
Sie durften bleiben.
Dann war Stille um mich herum.
Und dunkel.
Endlich.
Nun ist das vierte Kapitel meiner Geschichte niedergeschrieben.
An dieser Stelle möchte ich mich bei zwei ganz besonderen Menschen bedanken – meinen Lebensrettern.
Armin
Du warst in der schlimmsten Zeit meines Lebens für mich da. Obwohl sich unsere Lebenswege längst getrennt hatten, bliebst Du mein Freund, mein Vertrauter.
Trotz der Gangs in meinem Kopf, die dir den Umgang mit mir oft sehr schwer gemacht haben, hast Du zu mir gestanden, an mich geglaubt.
„Ich wusste immer, dass es nicht Du warst“, war deine Antwort auf meine Frage, warum Du nach all dem keinen Groll gegen mich hegst.
Ich bin dir auf ewig dankbar – für das und für alles, was uns verbindet.
Andrea
Ich glaube, das Universum hat dir eine Bürde zugeschoben, die sehr schwer für dich zu tragen war. Du warst diejenige, die mich aus dieser stundenlangen Höllenfahrt erlösen konnte.
Deine geduldige Ruhe, deine vorsichtige, aber bestimmt fordernde Wortwahl begleitet mich an einen Ort, der mir richtig Angst machte. Aber, liebe Andrea, das war das einzig Richtige.
Du gabst mir die Kraft, die ich nicht mehr hatte.
Dafür bin ich dir auf ewig dankbar.
Ganz lieben Dank dafür, dass Du mir folgst und Dich für meine Geschichte interessierst. Die Fortsetzung folgt, wenn ich bereit dafür bin. Also dann, bis bald. Liebe Grüße Bärbel - Hinterlasse mir gerne eine Nachricht.
Bist Du auf der Suche nach einer Therapie? Dabei kann Ihnen der Patientenservice helfen.
Du erreichst ihn unter der Telefonnummer 116117.
Fällt dir das Telefonieren im Moment schwer? Dann kannst Du auch online Termine unter folgendem Link anfragen.